Guido Westerwelle antwortet Kurt
Beck.
Der politische Karate-Schlag des Jahres 2006
1. November 2006
Eine weitergende Formulierungsidee der
LT-Redaktion am Ende.
Die FAZ schrieb, Westerwelle habe der SPD eine „Absage“ erteilt. Bilden Sie
sich Ihr eigenes Urteil.
Guido Westerwelle für DIE ZEIT:
„Kurt Beck gratuliert uns zum Geburtstag unseres Freiburger Programms. Dafür
bedanke ich mich. Nun gratuliert der SPD-Vorsitzende natürlich nicht ohne
Hintersinn. Er stellt vier Fragen.
Eine spricht er aus. Sie lautet:
Herrscht in der FDP von heute der Mut zur Eigenständigkeit? Die Antwort ist
ein klares Ja. Der Liberalismus ist kein Anhängsel einer anderen
Denkrichtung, kein Mehrheitsbeschaffer und kein Bestandteil eines Lagers. Der
Kompass der FDP ist allein ihr freiheitliches Programm. Wenn sich andere
Parteien von uns entfernen, laufen wir nicht hinterher. Wenn sich andere uns
annähern, rennen wir nicht davon. Wir vermessen unseren Standort nicht nach
den aktuellen Bewegungen anderer.
Die zweite Frage des
SPD-Vorsitzenden ist eine Unterstellung. Klischees werden nicht richtiger,
indem man sie aneinander reiht, ob sie nun »Marktradikalismus«, »Engführung«
oder »Fundamentalopposition« lauten.
Der vergangene FDP-Parteitag in Rostock hatte die Schwerpunktthemen Umwelt-
und Energiepolitik. Davor haben wir uns in Köln mit den Bürgerrechten
beschäftigt, davor in Dresden mit der Gesundheit und der Außenpolitik. Für
unseren nächsten Parteitag in Stuttgart haben wir uns die Kultur- und die
Sozialpolitik vorgenommen. Unser Liberalismus ist umfassend.
Knapp die Hälfte der Deutschen wird von schwarz-gelben Koalitionen in
Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen erfolgreich regiert.
Diese Bündnisse leisten ebenso gute Arbeit wie seinerzeit das Bündnis mit der
SPD in Kurt Becks Heimat Rheinland-Pfalz, das außerordentlich erfolgreich
war.
Die dritte Frage, die Kurt Beck
in der Zeit stellt, ist mir die wichtigste. Sie handelt vom Verhältnis
zwischen dem Wohl der Wirtschaft und dem Wohl der Gesellschaft. Kurt Beck
suggeriert, es gebe einen Gegensatz zwischen liberal und sozial. Er glaubt,
der Liberalismus brauche einen Bindestrich, eine quasi abgeschwächte
Identität.
Bindestrich-Liberalismus hat mich nie überzeugt. Für uns sind wirtschaftliche
und gesellschaftliche Freiheit zwei Seiten derselben Medaille.
Diese Woche las ich in einem Kommentar: »Arbeit für alle – dieses
Wohlfahrtsversprechen hat sich inzwischen zur Lebenslüge entwickelt.« Nichts
könnte falscher sein. Wohlstand für alle muss nicht nur das abstrakte Ziel
von Politik für Deutschland bleiben – ganz konkret gilt auch:
Vollbeschäftigung ist machbar. Das heißt nicht, dass die Arbeitslosenquote
auf null sinken müsste. Vollbeschäftigung heißt in der Realität, dass Arbeit
findet, wer Arbeit sucht – und zwar in einem angemessenen Zeitraum.
Diese Forderung ist die in der Gegenwart drängendste Folgerung aus der ersten
Freiburger These: Liberalismus nimmt Partei für Menschenwürde durch
Selbstbestimmung. Was heute die Würde von Millionen Menschen am meisten
verletzt, ist Arbeitslosigkeit oder die Furcht vor Arbeitslosigkeit und
Armut. Nie zuvor haben so breite Teile des Mittelstands den persönlichen
Absturz gefürchtet. Was heute das Selbstbestimmungsrecht vieler verletzt, ist
ein wirtschaftlicher Zustand, der Selbstentfaltungs- und Aufstiegschancen verbaut.
Unsere europäischen Nachbarn beweisen, dass Arbeitslosenquoten von 5 Prozent
und darunter machbar sind. Wir haben mehr als das doppelte. Andernorts ist
ein Arbeitsloser durchschnittlich neun Wochen ohne Beschäftigung – bei uns 52
Wochen. Die zentrale Voraussetzung für eine grundlegende Verbesserung auf dem
Arbeitsmarkt lautet: mehr Wachstum. Über die vergangenen 15 Jahre hinweg hat
Deutschland knapp die Hälfte des US-Wachstums gehabt, und die USA hatten
knapp die Hälfte des Wachstums von China oder Indien. In Europa arbeiten wir
uns vom letzten auf den drittletzten Platz vor und strahlen zufrieden über
einen angeblichen Schröder-Merkel-Aufschwung. Das ist mir viel zu wenig
Ehrgeiz.
Natürlich wird ein hochentwickeltes Land wie unseres nicht mehr über viele
Jahre hinweg zehn Prozent Wachstum erreichen können, wie es aufholende
Schwellenländer verzeichnen. Und schon gar nicht können und wollen wir in
einer Gehaltsspirale nach unten chinesischen Löhnen Konkurrenz machen.
Deutschland war, ist und wird nie ein Niedriglohnland. Dies bedeutet aber: Je
billiger andere sind, um so besser müssen wir sein.
Deshalb muss Deutschland seine Ressourcen endlich auf Zukunftsfähigkeit
konzentrieren: Bildung und Forschung, neue Technologien. Dies ist nichts
anderes als die Umsetzung der zweiten Freiburger These: Fortschritt durch
Vernunft. Stattdessen leisten wir uns einen gigantischen
Umverteilungsapparat. Fast die Hälfte des Bundesetats wird für Soziales
ausgegeben. Die Ergebnisse sind schockierend – wie die von Kurt Beck mit
angestoßene sogenannte »Unterschichtsdebatte« gezeigt hat. Dieses Ausmaß an
Umverteilung mag sich aus hehren sozialen Absichten herleiten. Es führt aber
zu miserablen sozialen Ergebnissen. Bei einer Staatsquote von 50 Prozent ist
Deutschland kein armer, sondern ein verschwenderischer Staat.
Die dritte Freiburger These, die Demokratisierung der Gesellschaft, will dem
Bürger als sozialem Wesen Wege eröffnen. Genau das schreiben wir mit unseren
Wiesbadener Grundsätzen von 1997 fort: Liberalismus ist nicht Freiheit von
Verantwortung, sondern Freiheit zur Verantwortung, und zwar für sich selbst
und für die Nächsten. Anders als die SPD setzen wir dabei zuerst auf den
Bürger und erst dann auf den Staat – den wir aber eben nicht negieren. Wir
haben auch ein anderes Verständnis von Subsidiarität. Uns geht es dabei nicht
um die Konkurrenz staatlicher Verwaltungsebenen. Subsidiarität heißt:
Gesellschaftliche Lösungen sind staatlichen vorzuziehen. In der
Globalisierung ist dies aktueller denn je. Wir sagen ja zum sozialen
Menschen, aber nein zum verstaatlichten Menschen.
Die vierte Freiburger These handelt von der Reform des Kapitalismus. Diese
ist unverändert nötig: Wir wollen mehr Teilhabe und mehr Teilhaber. Deshalb
streiten wir für eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft. Teilhabe der
Bürger heißt heute mehr denn je, auf Bildung und auf eine Beteiligung am
Wirtschaftsleben zu setzen. Aber die SPD darf sich nicht vor der Einsicht
drücken, dass verkrustete Mitbestimmung und verregelter Kündigungsschutz in der
Praxis oft Fremdbestimmung durch Funktionäre und Hürden für Neueinstellungen
bedeuten. Eine praktische Reform des Kapitalismus ist der Umweltschutz. In
Freiburg stand er erstmals in einem Parteiprogramm. Ökologische
Marktwirtschaft statt ökologische Staatswirtschaft – diesen Mai in Rostock
haben wir durchdekliniert, was das heißt.
Kurt Beck und seine Partei, aber auch schwarze Sozialdemokraten wie Heiner
Geißler, beklagen die Ohnmacht der Nationalstaaten, geißeln »Heuschrecken«
oder fordern eine Tobin-Steuer. Die Globalisierung ist Realität. Niemand
außerhalb der deutschen Grenzen wartet auf uns. Es ist allein unsere
Entscheidung, ob wir etwas tun oder ob uns etwas angetan wird. Die zentrale
Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung lautet: den Einzelnen in
die Lage versetzen, teil zu haben – durch Bildung, durch Chancen, durch die
Freiheit, Bildung zu erringen und Chancen auch nutzen zu können. Wir dürfen
es uns nicht mehr erlauben, wirtschaftliche Vernunft und soziale
Verantwortung als Gegensatz zu denken.
Ich werde mit Interesse verfolgen, ob Kurt Beck seine SPD in Richtung einer
pragmatischen Mitte führt und, wie er angekündigt hat, die Leistungsträger
überall in unserer Gesellschaft stärker beachtet, damit auch soziale
Gerechtigkeit erwirtschaftet werden kann. Derzeit werden andere Signale
gesetzt. Heute regieren Union und SPD. Gemeinsam haben beide die größte
Steuererhöhung der Geschichte, den höchsten Schuldenstand, die Ausweitung der
Bürokratie und ein abstruses Monstrum namens Gesundheitsreform zu
verantworten. Die Regierungspraxis von Schwarz-Rot könnte gar nicht weiter
entfernt sein von den Prinzipien, die vor 35 Jahren in die Freiburger Thesen
Eingang fanden.
Dies ist denn auch die Antwort auf die
vierte Frage, die Kurt Beck nicht ausspricht, aber stellt: Ist für
die FDP eine Koalition mit der SPD erstrebenswert? Die Antwort ist eindeutig:
mit einer SPD, wie sie derzeit in Berlin regiert, nicht. Alles andere werden
wir sehen. Panta rhei – alles fließt. Keiner kann heute vorhersagen, wohin
die Programmdebatten von Union und SPD diese noch führen werden.
Kein Staat kann versprechen, alle seine
Bürger glücklich zu machen. Der Staat kann aber für die nötige Freiheit
sorgen, die jedem Bürger das Streben nach Glück ermöglicht. Genau das sollte Deutschland
tun, genau das ist liberal, genau dafür arbeiten wir – ohne Verwässerung,
ohne Abstriche und ohne Bindestriche.“
Das beste, das Fazit,
könnte – außerhalb des Politikbetriebes besser verständlich - auch so
formuliert sein:
Keine
Obrigkeit kann versprechen, alle Menschen glücklich zu machen. Die politischen
Parteien können aber für die nötige Freiheit sorgen, die jedem das Strebem
nach Glück ermöglicht. Genau das sollte in Deutschland geschehen, genau das
ist liberal, genau dafür arbeiten wir – ohne Verwässerung, ohne Abstriche und
ohne Bindestriche
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