Stand: 19. Juni 2001, 8:00
Überlebt die Demokratie im Wohlfahrtsstaat?
II. Wissen wir eigentlich, was wir tun?
Es folgen nun doch schwierige Probleme
. So beschließen Parlamente laufend aus Steuern oder Abgaben finanzierte Rechte oder Ansprüche, wann immer eine Gruppe „ungerechte kollektive Benachteiligung“ artikuliert und erfolgreich kommuniziert. Gleichheit, das Ziel dieser Handlungen, ist aber grundsätzlich nicht herzustellen. Hoffnungen begründen andererseits Wünsche, deren Erfüllung auf ökonomische Irrwege führt. Entsprechend verheerend, das kulturelle Resultat: Ein bis zur Unkenntlichkeit ausgelatschtes Gerechtigkeitsideal. Rechte-Inflation (de Jasay) geht wie Währungsinflation mit entsprechendem Wertverlust einher.
Das Einrichten neuer oder stärkerer „sozialer Rechte“ schafft darüber hinaus neue Ungleichheit – vielleicht geradezu bedingt durch das
Streben nach regelbasierter Einzelfallgerechtigkeit. Verzögert werden nämlich andere schwache Schultern sichtbar. Ausgleich wird durch Einrichten weiterer „sozialer Rechte“ herbeigeführt.
Wiederum Andere sind nun die Schwächsten; auch sie erhalten passenden Ausgleich. Und es fällt zunehmend schwer, die Ablehnung neuer „Forderungen“ in glaubwürdige und schlüssige Handlungen
politischer Führung einzubetten. Schließlich ist nicht zu erkennen, dass Erwerbsinn, die Basis für materielle Wünsche, in Deutschland in den letzten 20 Jahren insgesamt zugenommen hätte.
Wissen wir, ob, ggf. wann der Wettlauf von Ungleichheit und Ausgleich (vor der Krise) zum Stehen kommt? Die negative Antwort liefert
z.B. Luhmann: Weil dieser gesellschaftliche Prozess aus der Gesellschaft selbst heraus entwickelt wird, verändern schon Erkenntnisse hierzu die Gesellschaft in einer Weise, die das
ursprünglich erwartete Prozessergebnis mitverändern. Entgegen noch immer weit verbreiteter Planungsgläubigkeit ist also öffentlich gemachte, entscheidungsrelevante Prognose gesellschaftlicher und
wirtschaftlicher Entwicklung prinzipiell ungenau und ziemlich unsicher. Bereits Popper argumentierte im Kritischen Rationalismus mit ähnlichem Ergebnis. Gäbe es eine intelligente und gerechte Instanz, wäre mit dem Risiko der Krise zu leben. In der
Demokratie
entscheiden aber Mehrheiten, ggf. in wechselnden Koalitionen, selbstverständlich auch über die Verteilung der Güter. Die entsprechenden
Kämpfe werden ohne Richter ausgetragen. Und so sieht heutige Demokratiepraxis unter dem Einfluss des Wohlstandsstrebens, knapp skizziert, dann aus: Unter Verweis auf das Gebot der Solidarität wird
beispielsweise die Zumutbarkeit von Belastungen subjektiv, im wesentlichen irrational durch Kompromiss, ggf. Abstimmung geklärt.
Viele unserer Mitbürger argumentieren zunehmend mit solchen Unzumutbarkeiten, d.h., mit dem was sie für sich selbst für unzumutbar halten. Leidenschaftslos: Wohlstand im Wohlfahrts“staat“ ist
immer zumutbar. Arbeit ist bereits manchmal unzumutbar. Heute gibt es daher in der Demokratie häufig keine andere Wahl als gemeinsamen Nenner durch die simple Vereinigung aller Forderungen
festzulegen. Wie geht dies weiter? Der Versuch der Gesellschaft sich selbst zu beschreiben ist nach Luhmann ein „logisch intraktables Terrain“. Weder einzelne noch Gruppen von Bürgern
überblicken hinreichend die Konsequenzen ihrer Handlungen. Das beschriebene Szenario ist konsequenterweise, ohne Anspruch auf prognostischen Charakter, gut abgebildet in der Geschichte der
letzten
52 Jahre deutscher Demokratie.
Die Zustimmung der Bürger zu ihrer Bundesrepublik wurde im wesentlichen mit Geld, in der Wachstumsspirale erarbeitet, gewonnen. Mit Geld
wurde um sich geworfen. Zahlen war zu allen Zeiten bequemer als Führen durch Überzeugen. Der Volksmund hat wohl daher Geld zur „Kohle“ bzw. „Knete“ degradiert. Nun „fehlt Geld“. Viele Bürger
verstehen nicht, warum das so sein muss. Die meisten Bürger wissen überdies nicht, wie sie sich im Falle des Mangels selber helfen können. Sie sind abhängig geworden. Daher die aufgewühlte
und andauernde Empörung über die Demontage des Sozial“staates“ - als ob dieser, statt der Bürger selbst, Wohlstand produzierte. Seit etwa vierzig Jahren haben wir unsere psycho-politische
Infrastruktur systematisch und gedankenlos zumindest beschädigt, möglicherweise sogar ruiniert. Niemand wollte das. Es muss nun nicht Geträumtes, nicht Geplantes, nie Gewolltes doch
„geschehen“. Damit naht die Stunde der Wahrheit: Wollen die Bürger Demokratie oder
Wohlfahrts“staat“? Dieser Frage, einer schier unglaublichen Provokation, darf nicht ausgewichen werden. Wir wissen nämlich, dass die Mehrheit für Demokratie komfortabel, jedoch nicht überwältigend ist. Nach heutiger Einstellung ist darüber hinaus zu befürchten, dass die Zustimmung zur Demokratie dem Wohlstand lediglich proportional ist. Muss die philosophische Grundlage unserer Gesellschaft saniert werden? Was könnte geändert werden?
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